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Der Weg zu einer biblischen Hermeneutik

Dr. Rolf Hille, am 26.06.2016 im “Netzwerk Bibel + Bekenntnis”:

Die notwendige Taufe des Hermes – oder:   Wie wir zu einer biblischen Hermeneutik kommen

Hermeneutik ist die Kunst des Dolmetschens. Man braucht sie, um Texte richtig verstehen zu können. Denn jeder, der einen Text – besonders aus einer anderen Kultur und Zeit – liest, steht in Gefahr, statt das vorliegende Wort auszulegen, die eigenen Vorstellungen und Erfahrungen in dieses hineinzulesen. Also muss man ernsthaft fragen: Was hat der Autor ursprünglich gemeint und was kann er mir heute sagen? Demnach ist die Hermeneutik eine seriöse und wichtige Kunst.

Doch sie hat auch ihre Haken und Fallen. Das fängt schon beim Namen des Hermes an. Hermes war in der griechischen Mythologie der Götterbote. Er überbrachte u.a. Botschaften der Götter an die Menschen. Nun ja. Aber Hermes war nicht so harmlos wie es den Anschein hat. Er betätigte sich auch als Patron der Diebe und Wegelagerer. Bei ihm musste man aufpassen, dass einem nichts geklaut wurde. Eben war die Handtasche noch da, plötzlich ist sie weg. Hat Hermes sie mitgehen lassen?

Historisch-kritischer Umgang mit der Bibel

Genau das ist das schmerzliche Gefühl, das viele Christen haben, wenn Theologen die Bibel hermeneutisch bearbeiten. Eben stand noch eine Aussage in klaren Worten da. Doch ehe man sich versieht, wird sie als unechtes Jesuswort oder als unechter Paulusbrief bezeichnet und die Botschaft erscheint problematisch. In einem anderen Fall gebietet Gott eindeutig ein Verhalten und lehnt z.B. praktizierte Homosexualität ab, da kommen Hermeneuten und erklären, dass Paulus etwas völlig anderes vor Augen hatte, als er Römer 1,18ff schrieb. Also war alles nur falscher Alarm bzw. ein bedauerliches Missverständnis. Der Dumme ist in der Regel der Laie. Ihm fehlen die Kenntnisse, um die Tricks von Hermes zu durchschauen. Dem, was in schlichten und klaren Worten dasteht, kann man offensichtlich nicht vertrauen. Vor allem wird aufgrund der historisch-kritischen Auslegung oft behauptet, die von der Bibel dargestellten historischen Ereignisse hätten so, wie sie die Bibel beschreibt, nie stattgefunden. Am Ende – so sagt es die hermeneutische Theorie – wollten die Schreiber nur ein besseres Verständnis der menschlichen Existenz, eine sozialere Welt oder einen christlicheren Humanismus. Das war’s dann.

Was soll man sagen zu der tiefen hermeneutischen Unsicherheit, die in der wissenschaftlichen Theologie meist unter dem Label „historisch-kritische Forschung“ läuft? Die Kritik an der historisch-kritischen Forschung bezieht sich auf die philosophischen und ideologischen Vorurteile, mit denen diese Methode an die Bibel herangeht. Sie praktiziert einen methodischen Atheismus, so, als ob es den lebendigen Gott nicht gäbe. Eine sachlich profunde, historische, philologische und archäologische Arbeit ist damit allerdings keineswegs ausgeschlossen.

Notwendigkeit einer biblischen Hermeneutik

Also, einen Götterboten brauchen wir sicher nicht. Wohl aber die verlässliche Botschaft Gottes. Der Hermes, um bei der so zwielichtigen Gestalt zu bleiben, muss getauft werden. Dem Hermes, der unversehens das Wort Gottes manipuliert, muss das Handwerk gelegt werden.

Wir brauchen eine biblische Hermeneutik, d.h. eine aus der Bibel selbst abgeleitete Kunst des Verstehens. Zu der gehört neben dem gründlichen Studium des Einzeltextes eine solide Kenntnis der Heilsgeschichte und des großen Zusammenhangs der Heiligen Schrift. Denn erst in der biblischen Ganzheit lassen sich die einzelnen Schriftabschnitte sachgemäß zuordnen und verstehen. Die „dunklen Stellen“, die schwer zugänglich sind, können und müssen durch die Texte, die eindeutig klar sind, verstanden werden.

Klarheit und Mitte der Schrift

In allen Fragen, die unsere Gemeinschaft mit Gott und das Heil betreffen, ist die Bibel glasklar. Und das, weil Jesus das Zentrum der Offenbarung ist. Das Alte Testament weist prophetisch auf Christus hin und bereitet sein Kommen vor. Die Evangelien verkündigen die Botschaft von seiner göttlichen Geburt sowie seinen Worten und Taten. Sie stellen sein Leiden und Sterben am Kreuz in die Mitte des Evangeliums und sie bezeugen seine leibhafte Auferstehung, seine Himmelfahrt und glorreiche Wiederkunft am Jüngsten Tag zum Gericht über Lebende und Tote. Dieses Evangelium von der Erlösung und Rechtfertigung des Sünders entfalten die Apostel dann in ihren Briefen und Schriften.

Die Bibel ist also ungeachtet der langen Zeiträume, in denen sie entstand, und unabhängig von der Vielfalt ihrer Autoren ein in sich klarer und wahrer Zusammenhang. Sie ist das Werk Gottes, das aus der Inspiration des Heiligen Geistes hervorging. Weil Gott selbst Autor der Schrift ist, hat sie – und sie allein – Autorität in allen Fragen des Glaubens und Lebens. Und weil der Heilige Geist die menschlichen Verfasser geleitet hat, kann der Inhalt der Schriften auch nur durch die Erleuchtung des Heiligen Geistes in der Tiefe verstanden und bejaht werden. Der Heilige Geist gebraucht das Schriftwort, um Menschen zur Buße und zum rettenden Glauben zu führen. Der Geist bewirkt durch das Wort, dass Menschen in die Nachfolge Christi Schritt für Schritt hineingeführt werden und so Christus ähnlich werden.

Die alles bestimmende Mitte des geschriebenen Wortes Gottes ist deshalb das fleischgewordene Wort, d.h. Christus. Und das Ziel der Schrift ist soteriologisch, d.h. sie zeigt den Weg zum ewigen Heil.

Hermeneutische Grundsätze – „sola scriptura“

Dabei sind zwei weitere hermeneutische Grundsätze zu bedenken:

Erstens „sola scriptura“ (allein die Schrift). Das war Martin Luther angesichts der vielen kirchlichen Traditionen, Heiligenlegenden usw., die die Schrift überwuchert hatten, ein großes Ärgernis. Dadurch war das Evangelium mehr und mehr verdunkelt worden. Natürlich hat die Gemeinde Jesu in den Jahrhunderten ihrer Geschichte vielfältige Erfahrungen gesammelt und auch tiefe Einsichten gewonnen. Aber unsere konfessionellen Prägungen und theologischen Erkenntnisse müssen immer neu an der Schrift als dem verbindlichen Maßstab überprüft werden. Der Schriftbeweis ist deshalb in jeder theologischen Auseinandersetzung das entscheidende Argument.

Im Zusammenhang des „sola scriptura“ ist zudem an eine eigenartige Verschränkung zu erinnern. Luther forderte „allein die Schrift“ gegen die Übermacht der Traditionen in der mittelalterlichen Kirche. Die Kirchen der Reformation sind jedoch nach dem Aufkommen der modernen Bibelkritik im 18. Jahrhundert auf der anderen Seite vom Pferd gefallen. Sie behaupten, dass die Bibel, weil sie von Menschen geschrieben wurde, selbst auch nur menschliche Tradition sei. Die Theologen fühlen sich deshalb genötigt, erst mühsam nach authentischen Worten Gottes in der Bibel suchen, bzw. den sogenannten Kanon im Kanon zu finden. Während die Katholische Kirche also die Tradition zur Bibel hinzuaddierte, hat der Neuprotestantismus die scheinbar lediglich menschlichen Traditionen aus der Bibel subtrahiert bzw. ausgeschieden. Beides ist falsch, weil weder die Addition noch die Subtraktion der Ganzheit der Bibel gerecht wird.

Hermeneutische Grundsätze – „Tota scriptura“

Damit sind wir bereits beim zweiten Grundsatz: „Tota scriptura“ (die ganze Schrift). Die Bibel ist ein von Gott geschaffener Organismus, in dem alles mit allem in lebendiger Weise zusammenhängt. Dabei gefällt es Gott, Menschen in einer bestimmten Lebensphase den einen oder anderen Bibeltext besonders wichtig zu machen. Aber die Schrift als Ganze ist größer und bedeutsamer als unsere aktuellen Erkenntnisse. Deshalb sind wir auch an das gesamte Offenbarungswort von 1. Mose 1 bis Offenbarung 22 gewiesen. Entsprechendes gilt auch für bestimmte Phasen der Kirchengeschichte. In Verfolgungszeiten spricht z.B. die Offenbarung des Johannes besonders zu den Gläubigen. In der Reformationszeit hat Gott die Rechtfertigung des Sünders ganz neu ins Zentrum gerückt. Als sich die evangelische Kirche in der „billigen Gnade“ bequem einrichtete, musste sie durch Gottes Geist zur Heiligung neu erweckt werden.

Um ein weiteres Beispiel zu nennen, in 1. Tim. 5,23 bittet Paulus seinen Freund Timotheus, wegen seiner Magenprobleme nicht nur Wasser, sondern auch ein wenig Wein zu trinken. Nun gut, mag mancher sagen, das ist wohl ein Hausrezept, das der Apostel bei seiner Großmutter gelernt hat. Aber ist dieser Ratschlag wirklich Gottes Wort? Könnten wir auf diesen Vers nicht verzichten? Wir können es nicht, denn mancher charismatische Wunderheiler verlangt, dass Christen auf Ärzte und Medizin verzichten und ausschließlich auf Wunder hoffen. Da ruft uns Paulus zur bodenständigen Nüchternheit, obwohl er selbst oft die Heilungswunder Gottes bezeugt hat. Aber es gilt eben, die ganze Schrift ernst zu nehmen und anzuwenden.

Alle diese Zusammenhänge muss der bekehrte Hermes lernen und in der Auslegung praktizieren. Es geht also nicht um die Frage Hermeneutik Ja oder Nein, sondern um die Aufgabe, die Bibel als das geschriebene Offenbarungswort Gottes in Ehrfurcht zu hören und sie dann schriftgemäß auszulegen.

Dr. Rolf Hille, Heilbronn

 

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