ProMundis Blogeintrag, 8. Februar 2016, von Thomas Schmirrmacher
- Quelle: http://www.thomasschirrmacher.info/archives/4313
Derzeit bestimmt das Verhältnis der Partei Bündnis 90/Die Grünen und ihrer Vorläufer zur Pädophilie die Medien, jüngst besonders das des Berliner Landesverbandes.
Ich möchte zu der ganzen Sache einige Aspekte hinzufügen.
Ich bin 1960 geboren. Ich habe die ganze Diskussion um die Pädophilie bei den Vorläufern der Grünen und später bei den Grünen bereits als Gymnasiast und dann als Student miterlebt. Was gerne vergessen wird:
1. In der Gesellschaft gab es meines Erachtens damals zahlreiche Kräfte, die sämtliche Grenzen in punkto Sexualität aufheben wollten, sei es zu Pornografie, Inzest, Sex mit Tieren oder eben Pädophilie. Befürworter dieser Sicht fanden sich beileibe nicht nur bei den ‚Grünen‘ und ihren Vorläufern, sondern auch etwa in Kreisen der evangelischen Theologie – um vor allem den Bereich zu nennen, den ich am besten kenne –, der Pädagogik oder in anderen Bereichen der Universitäten.
Zoe Jenny schreibt etwa dazu:
„Am liebsten hatte man damals die Kinder wie auf den Bildern von David Hamilton. Unbeschwert und nackt. Die Wände in den WGs und Kommunen waren damit tapeziert. Kinder waren allzeit zur Verfügung stehende sexuelle Projektionsflächen. Niemand störte sich daran. Das war der links-grüne Mainstream, der Zeitgeist, dem weite Teile der Gesellschaft zustimmten. Im Zuge der sexuellen Revolution wurden die Erwachsenen vor allem von einem befreit: von ihrer Verantwortung.“ (Zoe Jenny. „Meine Lehrer waren pädophile Weltverbesserer“. Die Welt 14.10.2013.)
2. Wer damals kritisch ‚gewarnt‘ hat, wurde zum Außenseiter, auch als Jugendlicher, wie ich es selbst erlebt habe – „die Alten“ wollte dazu eh meist keiner hören! Und zwar nicht nur durch die grüne Minderheit, sondern durch die Mehrheit, die auf dem großen Trip der sexuellen Befreiung war und trotz ihrem ständigen Pochen auf Toleranz intolerant keine Störenfriede duldete. Das gilt für das Thema Pädophilie ebenso wie das Thema ‚Vergewaltigung in der Ehe‘, Kinderpornografie oder Pornografiesucht: Niemand sollte den neuen Spaß stören. Warnungen, Gefahren, ja heute längst wieder strafbare Handlungen, wurden heruntergespielt. Und übrigens waren und sind es immer Erwachsene, die meinten und meinen, Jugendliche sexuell befreien zu müssen, nicht die Jugendlichen selbst, die die Forderungen stellten und stellen.
Ich erinnere mich, dass ich 2007 völlig erstaunt war, als Familienministerin Ursula von der Leyen aufgrund eines kleinen Gutachtens von mir, das RTL und der Kölner EXPRESS aufgriffen, – und sicher aufgrund weiterer Proteste – eine Broschüre zum Umgang der Eltern mit der Sexualität von Kleinkindern zurückzog, die ich als Anleitung zum sexuellen Übergriff durch die Eltern bezeichnet hatte, da darin Kinder etwa mit den Geschlechtsteilen des Vaters spielen sollten. Die Außerdienststellung der Broschüren ist Zeichen einer neuen Sensibilisierung, denn das Heft und ähnliche Hefte waren Jahrzehnte auf dem Markt.
- Ministerin zieht Aufklärungsbroschüre ein
- Von der Leyen stoppt Sex-Broschüre
- Deutsche Familienministerin zieht Skandal-Aufklärungsbroschüre ein
- Angriffe auf die Broschüre „Körper, Liebe, Doktorspiele“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
3. Im Übrigen sind wir jetzt wieder so weit: Die Schulzimmer minderjähriger Schüler werden wieder zum Spielball sexueller Themen aller Art, die ohne Rücksicht auf die Besonderheiten Minderjähriger von Amts wegen – und damit nie wirklich freiwillig – so früh wie möglich von und mit Erwachsenen diskutiert werden sollen, die dabei rücksichtslos über ihre eigenen Sexualpraktiken sprechen und die Vorlieben der Minderjährigen hervorlocken wollen, gleich ob die das wollen oder nicht.
Es ist mir ganz gleich, ob die ‚Betroffenen‘, die nach Vorstellung mancher sogar mit den Schülern allein sprechen sollen, also ohne dass Lehrer anwesend sind, heterosexuell oder homosexuell, humanistisch oder katholisch, prüde oder offen für alles sind oder was auch immer für eine Sexualmoral vertreten oder bekämpfen: Die Gefahr, gegen den Willen von Minderjährigen in ihre sexuelle Privatsphäre einzudringen, ist viel zu groß, das voyeuristische Element der erwachsenen Zuhörer viel zu wenig ausschließbar. Was geht Lehrer, geschweige denn nicht pädagogisch ausgebildete ‚Betroffene‘, eigentlich in einer gesetzlichen verpflichtenden, öffentlichen Schulstunde an, was Kinder (tatsächlich oder vermeintlich) für sexuelle Vorlieben, Phantasien, aber auch Ängste und Sorgen haben?
Und wer nimmt Rücksicht darauf, wenn ein Teil der Kinder gar nicht darüber sprechen will oder zum Beispiel nicht vor anderen in der Öffentlichkeit oder nicht vor Erwachsenen? Werden die Kinder dann unter Druck gesetzt? Bekommen sie dann schlechtere Noten? Ja, ist es nicht schon zu viel Druck, dass die staatliche Schule nach Lehrplan – und damit nicht freiwillig – einzelne konkrete Fragen zu ihrer Sexualität stellt, offiziell natürlich in Rahmen von Rollenspielen, Malen oder Gruppendiskussionen? Sind es hier nicht wieder Erwachsene, die einfach erzwingen wollen, was sie für gut finden, und nicht dem folgen, was Minderjährige aus sich heraus entwickeln und wollen?
Und warum dürfen keine Eltern anwesend sein, wenn außer den offiziellen Lehrern auch nicht pädagogisch ausgebildete Personen dabei sind? Ein Verhör von Minderjährigen bei der Polizei darf ja auch nicht ohne Erziehungsberechtigte stattfinden.
Würden Eltern manche der geplanten Fragen ihren eigenen Kindern stellen oder manche der Spiele mit ihnen machen wollen, würden diese Kinder rebellieren und würde das von anderen als zu starker Eingriff in die Psyche der Kinder angesehen. Warum ist es aber besser, wenn erwachsene Nicht-Eltern und Nicht-Lehrer das in der Schule tun?
Und warum werden nicht auch von Heterosexualität ‚Betroffene‘ gebeten, ebenso im Unterricht ihre Erfahrungen darzulegen und so den heterosexuellen Schülern die Gelegenheit zu geben, ihre Identität herauszufinden? Immerhin hat nur eine Minderheit von ca. 3% der Bevölkerung und der Kinder eine homosexuelle oder verwandte Identität, das heißt 97% der Bevölkerung und Kinder haben sie nicht und brauchen genauso das Gespräch mit ‚betroffenen‘ Vorbildern.
Wenn neben den Lehrern andere ins Spiel kommen, die rund um das Thema Sexualität Unterricht gestalten, muss man doch fragen: Ersetzt Betroffenheit neuerdings die pädagogische Lizenz? Und warum dann nur für das Gebiet der Sexualität? Sollten wir dann nicht auch Versicherungsvertreter im Unterricht mit den Kindern ihre Zukunft planen lassen?
Zoe Jenny besuchte 1982 bis 1984 die Freie Volksschule Basel (FVB), eine der reformpädagogischen Schulen, „wie sie im Zuge der links-grünen Bewegung der Achtzigerjahre Mode waren“. Sie erzählt ein Beispiel, was passierte, als die Klasse mit dem Lehrer an einem Kiosk pornografische Zeitschriften gesehen hatten:
„Zurück im Klassenzimmer, mussten wir im Kreis auf dem Boden sitzen. Thema: Selbstbefriedigung. Jeder sollte der Reihe nach darüber Auskunft geben, wie wir uns selber befriedigen. Die Ältesten waren gerade mal neun Jahre alt. Wir wurden genötigt, über etwas Intimes zu sprechen, das wir noch nicht mal kannten. ‚Ich bohre gerne in der Nase‘, sagte ein Mädchen. Ende der Diskussion. Sichtlich enttäuscht stellten die Lehrer schließlich fest, dass wir längst nicht so sexualisiert waren, wie sie es sich erhofft hatten.“ (Zoe Jenny. „Meine Lehrer waren pädophile Weltverbesserer“. Die Welt 14.10.2013.)
Kommt das jetzt alles wieder?
Kurzum: Bei aller moralischen Empörung muss man feststellen:
Durch die heutige Empörung über die Grünen (bzw. ihre Vorläufer) versuchen sich viele Gesinnungsgenossen von einst – wie etwa der ‚Spiegel‘ – heute schön weiß- und reinzuwaschen. Warum etwa fördern die Medien massiv die Aufklärung bei den Grünen, bei den Kirchen, ja überall, nur nicht in Bezug auf die Medien selbst, die doch zweifelsohne eine zentrale Rolle in der sexuellen Revolution spielten?
In 30 Jahren wird vermutlich die Öffentlichkeit genauso erschrocken sein, wer seinerzeit nur vertreten und zulassen konnte, dass die Sexualität der Minderjährigen von Nicht-Lehrern im Unterricht abgefragt wird. Dabei wird er dann unter anderem auf einen grünen Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg stoßen und sich fragen, ob es wirklich nur Einzelne waren oder nicht zu einem Ministerpräsidenten auch eine Partei und viele Wähler gehören … Und man wird sich fragen, ob die Grünen wirklich etwas gelernt haben!1
Noch ein letztes Wort: Sexueller Missbrauch von Minderjährigen führt nach wie vor ein Schattendasein als Forschungsthema und pädagogisches Thema. Nichts weist darauf hin, dass die neuen Programme das Thema schwerpunktmäßig mit behandeln wollen. Und besonders erschreckend ist, dass es nicht so aussieht, als wenn es eindeutige, fach- und sachgerechte Richtlinien gegen sexuellen Missbrauch für alle geben wird, die in Zukunft mit Minderjährigen in der Schule über die Praktiken sexueller Minderheiten reden wollen! So sollte man etwa Kontakte derer, die im Unterricht zur Thematik erscheinen, außerhalb der Schule untersagen und auch sonst sicherstellen, dass kein Beteiligter die schulische Veranstaltung zur Anbahnung sexueller Kontakte nutzt. Damit will ich niemand speziell verdächtigen, aber derartige Aufklärung und Vorbeugung gehört nun heute einfach dazu, und es ist schon sehr verwunderlich, dass dies gerade da fehlt, wo es ausdrücklich um Sexualität und Minderjährige geht!
Wie wäre es einmal, Erwachsene würden einfach einmal die Hände von der Sexualität Minderjähriger lassen? Das wäre dann auch eine echte ‚Umkehr‘ gegenüber den Versäumnissen des letzten Jahrhunderts.
Fußnoten:
1 Dieser Text beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit den Grünen. Leider gibt es aber auch in anderen Bundesländern mit Ministerpräsidenten anderer Parteien ganz ähnliche Entwicklungen, die genauso zu kritisieren sind bzw. eines Tages rückblickend als genauso problematisch empfunden werden werden.