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von Ulrich Parzany
29.06.2016
Die komfortable Lage der Christen in Europa steht in krassem Gegensatz zur Verfolgung der Christen in vielen Teilen der Welt, auch in den Flüchtlingsunterkünften in Deutschland, wie gerade Hilfsorganisationen veröffentlicht haben.
Mit einen flammenden Aufruf „Vergesst die Christen nicht!“ weist auch die Journalistin Regina Mönch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ 10.5.16 S.11) auf diese Nöte hin: „Wie kann es sein, dass sich in unserem Land, wo Hunderttausende ihre ‚Willkommenskultur‘ monatelang feierten und jeden angifteten, der auf offensichtliche Probleme hinwies, ein solcher Skandal ohne nennenswerte Gegenwehr entwickelte?“ Und sie weist auf den beschämenden Tatbestand hin: „Aber es gibt auch Bischöfe, die diese Not immer noch herunterspielen und, wie es neudeutsch heißt, darum keinen Handlungsbedarf sehen, zumal die ‚Beweislage‘ schwierig sei.“
Wir haben alle Freiheit
Die europäischen Länder garantieren die Freiheit des Glaubens, die ungestörte Religionsausübung, die Versammlungsfreiheit, das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. Diese Rechte stehen in Europa nicht nur auf dem Papier wie in den Verfassungen vieler Staaten weltweit, sie können gelebt werden und sind einklagbar. Davon gehen wir als Bürger der europäischen Länder selbstverständlich aus. Umso größer ist der Skandal, dass christliche Flüchtlinge diese Rechte faktisch nicht genießen können. Seit Jahren sind auch in Deutschland manche ehemalige Muslime, die Christen geworden sind, schutzlos den Todesdrohungen ihrer Familien oder des iranischen Geheimdienstes ausgesetzt und müssen sich verstecken.
Nicht nur dieser Widerspruch weist daraufhin, dass wir Christen unsere Freiheit nicht angemessen nutzen. Nicht Verfolgung ist unser Problem, sondern Verführung. Wo liegt das Problem?
Wo liegt das Problem?
Wir alle haben ein Grundbedürfnis nach Anerkennung und Bestätigung. Der Gefällt-mir-Daumen von Facebook könnte unser Erkennungszeichen sein. Er wir milliardenfach geklickt. Viele sind süchtig danach. Aber auch wer mit Facebook nichts zu tun hat, achtet darauf, was bestimmte Leute über ihn denken und sagen. Besonders bequem fühlt es sich an, wenn die Mehrheit so denkt, redet und handelt wie man selbst. Schwimmen mit dem Strom kostet keine Kraft.
Die Christen in den ersten Jahrhunderten schwammen gegen den Strom der Mehrheitsgesellschaft. Sie folgten Jesus, der in der Bergpredigt gesagt hatte: „Geht hinein durch die enge Pforte. Denn die Pforte ist weit und der Weg ist breit, der zur Verdammnis führt, und viele sind’s, die auf ihm hineingehen. Wie eng ist die Pforte und wie schmal der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind’s, die ihn finden!“ (Matthäus 7,13f) Sie lebten wo nötig auch gegen die Moral der Mehrheitsgesellschaft und bezeugten fröhlich ihren Glauben an Jesus. Sie zahlten dafür einen Preis – oft mit dem Leben.
Dann wurde das Christentum Staatsreligion. Die Christen kamen an die Macht. Sie nutzten sie leider auch zur Verfolgung ihrer Gegner. In Europa herrschte auch nach der Reformation der Grundsatz „cuius regio, eius religio“. Wer die Macht hatte, durfte bestimmen, was die Untertanen zu glauben hatten.
Das hat sich erst im Zuge der Säkularisierung im 19. Jahrhundert und der Trennung von Kirche und Staat im 20. Jahrhundert geändert. Jetzt galt „Religion ist Privatsache“. Der Einzelne durfte bestimmen, was er glauben wollte. Religion wurde nicht mehr vom Staat verordnet. Im deutschsprachigen Europa wurden die christlichen Kirchen weiter freundlich behandelt und hatten durchaus Einfluss in der Gesellschaft.
Die christlichen Erneuerungsbewegungen (Pietismus, Erweckungsbewegungen) begriffen die Chancen dieser Entwicklung. Die Zwangsverordnung des Christentums von oben hatte der Glaubwürdigkeit des Evangeliums von Jesus Christus geschadet. Wer zum Glauben zwingt, produziert Heuchelei. Das Evangelium aber muss frei verkündet werden. Liebe kann nicht zwingen. Menschen werden zu eigenen Entscheidungen eingeladen. Das nennen wir Evangelisation.
In den westlichen Demokratien leben Christen und Nichtchristen aller Art friedlich miteinander, solange keiner versuchte, dem anderen seine Weltanschauung mit Gewalt aufzuzwingen. Man dachte, man hätte in Europa eine Art des friedlichen Zusammenlebens gefunden. In den letzten zwei Jahrzehnten aber mischte der radikale Islam die Lage wieder auf. Der Islam versteht sich nämlich nicht zuerst als Privatsache, sondern als Gemeinschaftssache. Mohammed war nicht nur Prophet einer privaten Religiosität, er war von frühen Zeiten an der politische und militärische Führer der muslimischen Gemeinschaft. Viele Europäer haben das zunächst gar nicht verstanden, weil sie Religion nur als Privatsache kannten.
In den letzten Jahren schlug das gesellschaftliche Klima bei uns um. Viele sehen nun die freie, offene, pluralistische, demokratische Gesellschaft durch den totalitären Anspruch der Religionen wieder bedroht. Zunächst schien sich die Kritik gegen den Islam zu richten. Aber viele wie z.B. die Neuen Atheisten oder der Soziologe Prof. Ulrich Beck richteten ihre Kritik gegen alle Religionen, vor allem die monotheistischen mit ihrem exklusiven Wahrheitsanspruch. Die Christen versuchten sich gegen diese Kritik zu wehren. Sie verwiesen auf Toleranz und Liebe. Die Kritiker verwiesen dagegen auf Jahrhunderte der Machtausübung der Kirchen durch die Staatsreligion. Motto: „Jetzt habt ihr Kreide gefressen, weil ihr keine Macht mehr habt.“
Das gesellschaftliche Klima der freundlichen Duldung ist in eine manchmal feindselige Stimmung gegenüber Christen, die ihren Glauben offen bekennen und ihn öffentlich vertreten, umgeschlagen. Und da entsteht unser Problem der Verführung.
Ist der Gefällt-mir-Daumen unser Wappenzeichen?
Auch wir Christen möchten gern anerkannt sein. Der Gefällt-mir-Daumen könnte auch unser Wappenzeichen sein. Bei Vorstellungen neuer Pfarrer und Pfarrerinnen in Zeitungen wird lobend erwähnt, was sie selber sagen: Wir wollen natürlich nicht missionieren. Denn Missionieren ist pfui. Bischöfe sehen bei Nachrichten über misshandelte Christen in Flüchtlingsunterkünften keinen Handlungsbedarf. Sie wollen ja nicht als islamophob gelten – siehe oben.
Nicht wenige Gemeinden halten öffentliche Evangelisationsveranstaltungen nicht mehr für zeitgemäß. Sie setzen auf persönliche Kommunikation. Das hört sich gut an. Es ist aber nicht wirklich gut, wenn sich Christen in die privaten Nischen zurückziehen, um nicht anzuecken. Das Evangelium ist eine persönliche Nachricht und eine öffentliche Botschaft. Gott ist nämlich der Schöpfer, Erhalter, Retter, Richter und Vollender des Universums. Kein privater Nischen-Götze. Er ist der Gott für alle. Er will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. (1.Timotheus 2,4) Die Verkündigung des Evangeliums von Jesus muss in die Öffentlichkeit. Wir haben alle Freiheit dazu. Keiner verbietet es uns, wenn nicht wir selbst.
Die Evangelische Kirche in Deutschland lässt aus Anlass des anstehenden Reformationsjübiläums verlauten, dass sie das Alleinstellungsmerkmal des christlichen Glaubens nicht mehr vertreten will. Die Apostel haben vor Gericht in Jerusalem über Jesus gesagt: „Und in keinem andern ist das Heil, auch ist kein andrer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, durch den wir sollen gerettet werden.“ (Apostelgeschichte 4,10) Die EKD erklärt: „Die Herausforderung besteht darin, von Christus zu sprechen, aber so, dass dabei nicht der Glaube des anderen abgewertet oder für unwahr erklärt wird. So wie für den Christen das Gehören zu Christus der einzige Trost im Leben und im Sterben ist, so ja auch für den Anhänger der anderen Religion sein spezifischer Glaube. Dies darf auf beiden Seiten des Gespräches anerkannt werden.“ (Rechtfertigung und Freiheit, S.58)
Die Soziologen reden von „Plausibilitätsstrukturen“. Wenn die Mehrheit ringsum meinem Verhalten applaudiert, dann fällt es mir leicht, mich so zu verhalten. Da ist ja was dran. Schon deshalb tun uns Gottesdienste gut. Aber die wenigsten Christen leben immer in einer christlichen „Plausibilitätsstruktur“. Die Mehrheitsgesellschaft tickt nicht christlich. Aber wir möchten doch so gern anerkannt und bestätigt werden.
Konflikte sind unvermeidlich
Wenn ein Christ ehrlich sein will, aber das Pech hat, bei einem Unternehmer angestellt zu sein, der nicht tüchtig genug ist, um ehrliche Geschäfte zu machen, muss er um seine Karriere oder gar um seinen Job fürchten. Wenn ein Prediger oder Pastor Geiz oder Habgier in seiner Gemeinde anprangert, muss er mit Spendenausfall rechnen. Wenn er Ehebruch und anderen außerehelichen Sex kritisiert, wird er vielleicht Mitarbeiter verlieren und die Spaltung seiner Gemeinde riskieren. Wenn ein Theologe die Bibel für Gottes Wort und für den allein gültigen Maßstab für Glauben und Leben hält, wird er als Fundamentalist beschimpft. Ob er in der Kirche noch einen Arbeitsplatz findet, falls er nicht schon drin und verbeamtet ist, ist unsicher. Wer sich gegen die Trauung gleichgeschlechtlicher Paare ausspricht, kommt für Leitungsämter in den Landeskirchen nicht mehr in Frage.
Wir Evangelisten sind besonders durch Verführung gefährdet. Wir möchten Menschen gewinnen, zuerst ihre Aufmerksamkeit, dann hoffentlich auch ihr Herz. Wir fragen deshalb: Was interessiert die Menschen? Die Bedürfnisse sind offenkundig, die Anknüpfungspunkte ohne Zahl. Die Kreuzigung von Jesus ist Gottes stellvertretendes Gericht über uns Sünder und darum unsere Rettung. Sollten wir nicht lieber vermeiden, die Menschen als Sünder zu bezeichnen? Ich bin okay, du bist okay. Gott liebt uns alle, wie wir sind, wird verkündet, und stillschweigend klingt mit: Und wir dürfen bleiben, wie wir sind – selbstgerechte Ehebrecher, Geizkragen, Betrüger. Der Kunde ist König. Der Evangelist ist beliebt. Aber diese „billige Gnade“ ist Betrug.
Taten der Liebe, Diakonie und soziale Verantwortung, sind wesentliche Lebensäußerungen der Christen-Gemeinden. Aber die Verführung lauert auch hier. Für soziales Engagement werden die Christen gelobt. Für die evangelistische Verkündigung werden sie als Sekten verachtet. Also lassen sie die Evangelisation – wenigstens vorläufig – und hoffen durch soziale Dienste „gesellschaftlich relevant“ zu werden.
Toleranz und öffentliche Auseinandersetzung gehören zusammen
Der einstige württembergische Landesbischof Gerhard Maier schrieb einmal: „Verführung ist für die Gemeinde gefährlicher als Verfolgung. Verfolgung eint die Gemeinde. Verführung spaltet sie. Verfolgung lässt das Echte hervortreten, Verführung das Unechte triumphieren.“ Ja, Verführung ist auch deshalb gefährlicher, weil sie schleichend wirkt. Hilfe kann nur kommen, wenn wir uns der schleichenden Gefahr bewusstwerden. „Ihr habt doch den Mann vom Kreuz im Kreuz“, sagte mir einmal ein Journalist, der die Christen aus fragender Distanz betrachtete. Ich füge hinzu: Und wir haben den auferstandenen und wiederkommenden Herrn Jesus vor uns. Der Rücken ist frei, die Zukunft ist offen. Keine Angst!
Die pluralistische, demokratische Gesellschaft bietet uns Wirkungsmöglichkeiten, wie sie wenige Christen in der Welt haben. Wir sollten uns deshalb allerdings neu bewusst machen: Was ist Toleranz?
Früher hieß Toleranz: Andere werden als Bürger zweiter Klasse geduldet. So z.B. im Toleranzpatent Kaiser Josephs II. von 1781. Die Evangelischen durften auch Kirchen bauen, aber nicht mit Kirchtürmen. Diese Architektur kann man noch heute in Bratislava (Pressburg), Brno (Brünn) und anderswo besichtigen. Darum sagte Goethe, tolerieren hieße verachten.
Bis heute behaupten viele, Toleranz bedeute: Wir müssen auf die Beantwortung der Wahrheitsfrage verzichten und stattdessen versuchen, friedlich miteinander zu leben. Das ist die Quintessenz der Ringparabel in Lessings Drama „Nathan der Weise“. Der wahre Ring ging wahrscheinlich verloren. „Es eifre jeder seiner unbestochnen, von Vorurteilen freien Liebe nach!“ (G.E.Lessing, Nathan der Weise, Ringparabel, 1779) Das gleiche Toleranzverständnis vertrat der Soziologe Ulrich Beck: „Inwieweit Wahrheit durch Frieden ersetzt werden kann, entscheidet über die Fortexistenz der Menschheit.“ (Ulrich Beck, Der eigene Gott, S.209)
Die postmoderne Weltanschauung versucht die Heilung der Misere mit der Behauptung: Es gibt keine für alle verbindliche Wahrheit; jeder hat seine eigene. Darum lohnt sich der ganze Streit nicht. Was aber ist dann mit dieser Behauptung? Wenn es keine verbindliche Wahrheit gibt, warum sollte diese Behauptung wahr sein?
Der Philosoph Jürgen Habermas hat überzeugend beschrieben, was Toleranz ist:
„Wir brauchen nicht tolerant zu sein, wenn wir gegenüber fremden Auffassungen und Einstellungen ohnehin indifferent sind oder gar den Wert dieses ‚Anderen‘ schätzen… Die politische Tugend der Toleranz ist erst dann gefragt, wenn die Beteiligten ihren eigenen Wahrheitsanspruch im Konflikt mit dem Wahrheitsanspruch eines Anderen als ‚nicht verhandelbar‘ betrachten, aber den fortbestehenden Dissens dahingestellt sein lassen, um auf der Ebene des politischen Zusammenlebens eine gemeinsame Basis des Umgangs aufrechtzuerhalten.“ (Wann müssen wir tolerant sein? Über die Konkurrenz von Weltbildern, Werten und Theorien, Berlin-Brandenburg. Akademie der Wissenschaften, gehalten am 29. 6. 2002)
Toleranz heißt nicht, die eigene Position aufzugeben. Im Gegenteil, die freie Gesellschaft braucht die öffentliche Darstellung und Diskussion gegensätzlicher Weltanschauungen. Kompromisse müssen gesucht werden. Wo keine Kompromisse möglich sind, müssen die Regeln für eine friedliche Austragung des Konfliktes vereinbart werden.
Toleranz in diesem Sinne darf man von uns Christen wohl erwarten. Jesus erwartet mehr von uns: „Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen; segnet, die euch verfluchen; bittet für die, die euch beleidigen.“ (Lukas 6,27f)