Fragen aus der „Sackgasse“
– Eine Rezension von Volker Gäckle

 

Es ist ein leidenschaftliches Buch, das Michael Diener geschrieben hat (Michael Diener, Raus aus der Sackgasse! Wie die pietistische und evangelikale Bewegung neu an Glaubwürdigkeit gewinnt, Adeo Verlag 2021, 237 Seiten).

Hier hat sich einer freigeschwommen und sich befreit aus einem Korsett, das ihm zu eng geworden und aus dem er „herausgewachsen“ ist (187). Man kann auf vielen Seiten die Verletzungen spüren, die er davongetragen hat, die Demütigungen, die er erfahren hat und nach wie vor empfindet und nicht selten auch die Wut, die in ihm steckt. Es ist ein lesenswertes Buch, weil es über weite Strecken kluge Analysen und geistreiche Perspektiven bietet, die der Pietismus und Evangelikalismus von ihm aus vielen Predigten und Vorträgen gewohnt ist. Dies gilt vor allem für die Kapitel 6-10, in denen es um Richtgeist, Glaube und Vernunft, Liebe sowie Mission und Nachfolge geht. Hier entfaltet Michael Diener nüchtern und sachlich eine theologische Perspektive, die man nicht in allen Punkten teilen muss, die aber hilfreich und weiter-führend ist. Das alles soll aber nicht im Zentrum dieser Rezension stehen. Worum es gehen soll und muss, sind die massiven Anfragen und Anklagen, die Michael Diener an den deutschen Pietismus und die evangelikale Bewegung richtet. Beide Bewegungen hat er im letzten Jahrzehnt in führender Position geleitet und in beide Bewegungen, die sich vielfältig überlappen, hat er tiefe Einblicke. Dass nun ein ehemaliger Vorsitzender des Gnadauer Gemeinschaftsverbandes und der Deutschen Evangelischen Allianz ein solches Zeugnis ausstellt, wie es Diener in diesem Buch tut, ist ungewöhnlich.

Ich kann mich nicht erinnern, dass seine zahlreichen Vorgänger in beiden Ämtern sich in ähnlicher Weise geäußert hätten. Diese Anklageschrift ist nur erklärbar aus den Verwerfungen der letzten Jahre, in denen seine theologische Entwicklung eine zentrale Rolle spielte. Diese Rezension trägt die Überschrift „Fragen aus der Sackgasse“. Ich sehe mich und die Hochschule, das Werk und die Bewegung, für die ich Mitverantwortung trage, nicht in einer „Sackgasse“. Aber Michael Diener sieht Teile der pietistischen und evangelikalen Bewegung exakt in einer solchen Sackgasse stecken. Aus seiner Ortsbestimmung ergeben sich nun auch umgekehrt manche Fragen.

Was ist eine fundamentalistische und biblizistische Schriftauslegung?

Die Grundthese Michael Dieners ist, dass „das Glaubensprofil der pietistisch-evangelikalen Bewegung“ durch eine fundamentalistisch-biblizistische Lesart der Bibel „in unserer Kultur und Gesellschaft unattraktiv“ wurde und „nicht mehr vermittelbar“ ist (17). Was er mit dieser fundamentalistisch-biblizistischen Lesart genau meint, wird allerdings nur sehr vage ausgeführt. Lediglich an einer Stelle wird er konkreter, wenn er eine Sicht der Heiligen Schriftkritisiert, „die von der absoluten und umfassenden Fehler- und Irrtumslosigkeit der Bibel ausgeht und deshalb deren Aussagen ungebrochen auf die heutige Zeit überträgt“, sich an konservative Werte bindet und von liberalen Strömungen abgrenzt (53). „Der Weg von der Bedeutung biblischer Aussagen in ihren Zeiten und Kulturen zu einer Beurteilung heutiger Fragestellungen in unseren Zeiten und Kulturen ist [bei dieser Auslegung] noch zu direkt und ungebrochen …“ (54, ähnlich 69). In Kapitel 5 entfaltet Michael Diener dann skizzenhaft sein eigenes Schriftverständnis. Dabei plädierter u.a. für die Achtung von „Geschichte“, „Sprache“, „Zeitgenossenschaft“ und „Kultur“ als Gaben Gottes, die es ernst zu nehmen gelte, ebenso wie die Veränderungen der menschlichen Erkenntnis-se und der Art des Zusammenlebens im Lauf der Geschichte (73) und gegen die direkte und unreflektierte Übertragung von Geschlechter- und Eheverständnissen vergangener Epochen auf unsere heutige Zeit (74). Insgesamt bleibt es aber eine recht dürftige Beschreibung der von ihm angegriffenen Hermeneutik, deren vermeintlich „toxische“ Folgen auf vielen Seiten gegeißelt werden. Hierwünschte ich mir mehr Präzision und Kontext.

Was ist eine sachgemäße Schriftauslegung?

Aus diesem fundamentalistisch-biblizistischen Schriftverständnis erwachsen nach Diener Überzeugungen und Haltungen, die nicht dem Evangelium entsprechen noch glaubens- und lebensförderlich sind, sondern „toxisch“, „zerstörerisch und spaltend“ (13f.217). Entsprechend formuliert er den leidenschaftlichen Appell an seine Leserinnen und Leser: „Holt sie [sc. die Bibel] euch von denen zurück, die meinen, sie hätten ein Monopol auf ihre sachgemäße Auslegung“ (13). Als Vertreter einer von vielen Ausbildungsstätten im pietistischen und evangelikalen Spektrum er-laube ich mir, diesen Vorwurf einmal auf meine Zunft zu beziehen. In unserem Bereich gibt es sehr unterschiedliche Ausbildungsstätten mit durchaus unterschiedlichen hermeneutischen Akzentsetzungen. Aber auch jene Ausbildungsstätten, die in ihren Bekenntnisdokumenten sich zur „Irrtumslosigkeit“ und „Unfehlbarkeit“ der Heiligen Schrift bekennen, haben meiner Wahrnehmung nach alle ein „Ja“ zu einer historischen, methodischen und auch wissenschaftlichen Bibelauslegung, freilich mit unterschiedlichem Anspruch an das akademische Reflexionsniveau. In den allermeisten Ausbildungsstätten legt man großen Wert darauf, dass man sich Rechenschaft darüber gibt, auf welcher Grundlage exegetische Aussagen getroffen werden und dass diese sachlich und sprachlich nach-vollziehbar sind. Auch wenn der Gesprächspartner zu anderen Schlüssen kommen mag, sollte er die Textauslegung verstehen können. In der Regel ist man sich unter den Dozierenden der Notwendigkeit bewusst, biblische Texte sprachwissenschaftlich zu beleuchten, sie in ihrem historischen Kontext einzuordnen, in ihrer zeitgeschichtlichen Aussageabsicht zu erfassen, in ihrem kirchen- und theologiegeschichtlichen Verständnis wahrzunehmen und sie erst dann auf die theologischen und ethischen Fragestellungen der Gegenwart anzuwenden.

Muss Schriftauslegung zu pluralitätsfähigen Ergebnissen kommen?

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(…)

Michael Diener hat an die pietistische und evangelikale Bewegung viele Anfragen gestellt und manche Anklage erhoben. Inwieweit diese Streitschrift bei dem mühsamen Weg durch die in der Tateinschneidenden Veränderungen der Gegenwart hilft, wird sich zeigen. Was das Buch erreicht, ist eine Schärfung des Blicks auf grundlegende Fragen des Glaubens, des Bibelverständnisses und der Ethik. Dabei hat der Autor bewusst provoziert. Auch das schärft den Blick und klärt die Fronten. Und ja, soviel Ehrlichkeit muss am Ende dieser Rezension sein: Es gibt in der pietistischen und evangelikalen Bewegung vieles, wofür auch ich mich schäme: Es gibt fromme Querdenker, Verschwörungstheoretiker, Corona-Leugner, Homo-Hasser, Trump-Fans, Rechtsextreme und PEGIDA-Demonstranten, die auch mir Mails und Briefe schreiben und den Alltag eintrüben. Auch mir ist vieles peinlich, was so alles unter der Flagge des Pietismus oder Evangelikalismus daherkommt. Aber es sind und bleiben Schwestern und Brüder, die man manchmal aushalten muss, so wie auch Michael Diener mein Bruder bleibt, der mich und den ich aushalten muss, auch wenn sich unsere Perspektiven unterscheiden. Es sind Zeiten, in denen wir es lernen müssen, Menschen, Konflikte und Trennungen auszuhalten. Möge es Gott schenken, dass auch wieder Zeiten kommen, in denen wir wiederzueinander finden.

Volker Gäckle, 20. Oktober 2021

Prof. Dr. Volker Gäckle,

Rektor der Internationalen Hochschule Liebenzell und Vorstandsmitglied der ChristusBewegung – Lebendigen Gemeinde Württemberg, hat unter diesem Titel eine Rezension des Buches von Michael Diener, ‚Raus aus der Sackgasse!

– Wie die pietistische und evangelikale Bewegung neu an Glaubwürdigkeit gewinnt‘ geschrieben. Die Lektüre des Buches und der Rezension helfen zur Klärung. (U.P.)